Triester
Reinhard Braun
Eine Krähe, Disteln in winterlichen Bäumen, eine aufgelassene Tankstelle, ACAB, „Magreth’s Cafe“, Cafe „Bombon“, die „Monte Cito“ Cafe – Lounge – Tanzbar, ein verronnenes „Liebe! Liebe!“-Graffiti, Industriegebäude, Flussufer, ein SK Sturm-Schal auf der Heckablage eine blauen Peugeot 106 XR, abgerissene Plakate, immer wieder Straßen und Gehsteige und Gehwege, Spielplätze, Absperrbänder, Eis 150 m, „Gratis einkaufen am laufenden Band“, unterschiedlichste Fassadenausschnitte, Balkone, violett, mit künstlichen Sonnenblumen, Schatten auf Gehsteigen, Wiesen, Schranken, Hinterhöfe, „Samstag Reifenmontage!“, das „Aquarium“, und alles beginnt mit der Rückenansicht einer Familie, die mitten auf einer Seitenstraße geht – wohin? Eine geradezu melancholische Fotografie, lange Schatten, kahle Bäume, das Frühjahr scheint noch nicht angebrochen zu sein, doch ein Junge trotzt kurzärmlig der Kälte der tief stehenden Sonne. Breite, leere Gehsteige, sonst ist niemand zu sehen. Eine Gemeinschaft und die Stadt, in einer Stadt, auf dem Weg – in welcher Beziehung stehen sie zueinander, durch welche Geschichte werden sie verknüpft? weiterlesen
Triester. Ein Schuber von zehn Büchern, jedes 32 Seiten umfassend, voll mit Fotografien, die sich nicht systematisieren lassen, die keinen gemeinsamen Nenner zu haben scheinen, die hin und her schwanken in ihrer Aufmerksamkeit für den Stadtraum, zwischen Nahaufnahme und Totale, zwischen dem Besonderen, dem Außergewöhnlichen und dem Banalen, dem Allzu-Bekannten und dessen verborgenen Abgründen. Falls diese Bilder etwas umkreisen, dann lässt sich ihr Zentrum kaum identifizieren oder gar benennen. Sind überhaupt alle Bilder in derselben Stadt aufgenommen? Gibt es eine Chronologie?
Am Ende jedes Bandes gibt schließlich das Impressum eine knappe Auskunft: „Seit 2003 werden von den beiden 1964 in Graz geborenen Künstlern Martin Behr und Martin Osterider unabhängig voneinander in regelmäßigen Abständen fotografische Streifzüge durch die gleichnamige Siedlung im Grazer Stadtteil Gries unternommen, in dem beide aufwuchsen. Sie folgen dabei zwei Wegen, die beide in der Kindheit bei Spaziergängen oftmals mit Familie oder Verwandten gegangen sind – die ‚lange‘ und die ‚kurze‘ Runde.“ Also doch immer dieselbe Stadt, ein bestimmter Bezirk, ein umrissenes Territorium, ein paar Straßenzüge vielleicht nur. Triester zeichnet Geschichten der Verknüpfung eines Städtischen mit einer je eigenen Biografie nach, zeichnet visuelle Nachforschungen auf über die Art von Beziehung, die diese Verknüpfung hervorbringt. Keine Chronologie, sondern ein Verfahren der Wiederholung, immer wieder dieselben Straßen, Wege, Abkürzungen oder Umwege, dieselben Gebäude, dieselben Plakatwände, Auslagen, Zäune, Spielplätze, Ausblicke und Einblicke, Wiederholung als Erinnerung und Distanzierung zugleich, die Befragung der Perspektive, des Standpunkts, der je eigenen Rolle als Beobachter – Aufzeichnender oder Involvierter? Verlust, Veränderungen, Überraschungen, Beiläufigkeiten, entscheidende Augenblicke, die Besonderes enthüllen oder aber immer wieder nur das immer Gleiche zu sehen geben – alles scheint sich unbeabsichtigt und zufällig einzustellen, wie nebenbei.
Seit den ersten zehn Bänden, die zwischen 2013 und 2015 entstanden sind, sind sieben weitere Bücher erschienen, das letzte im März 2025, und weitere sind in Planung. Das Konzept einer offenen, unabgeschlossenen Dokumentation hat sich mit diesen drei Bänden verändert. Ein Textband, ein Band, der die Bildproduktion der beiden Künstler aus dem Jahr 2015 in Anlehnung an Kontaktbögen zusammenfasst sowie ein Band, der nichts weiter als ein auf den Buchseiten fragmentiertes Plakat zeigt, das im Ausstellungsraum aufliegt und parallel im öffentlichen Raum zu sehen ist – sie fügen dem dokumentarischen Projekt weitere Ebenen der Reflexion hinzu, ohne eine erläuternde Funktion einzunehmen. Doch geht es dabei nicht um eine konzeptuelle Verrätselung oder um die Betonung des künstlerischen Aspekts dieses außergewöhnlichen Projekts einer visuellen Langzeit-Kartografie, sondern im Wesentlichen darum, der Selbstverständlichkeit des Dokumentarischen entgegenzuarbeiten. Etwas in diesem kollaborativen Work in progress muss seiner eigenen Etablierung als historischem Dokument entgegenwirken, muss die Glaubwürdigkeit, die Autorisierung der Bilder unterlaufen, damit der unabgeschlossene Kosmos dieser Bilder unabgeschlossen bleibt und sich nicht selbst seiner Bedeutung vergewissert und aufgrund seines – zeitlichen wie visuellen – Umfangs als die Sache selbst zu verstehen beginnt. „Triester“ versucht vielmehr, sich jeder Zuschreibung zu entziehen, keine Interpretationen vorzunehmen und auch keine Authentizität für sich in Anspruch zu nehmen. Wie also sich selbst und uns allen diese Bilder wieder fremd machen, sie auch dem Stadtraum wieder entziehen, in dem sie entstanden sind, der eigenen Geschichte, dem eigenen Wissen und der eigenen Erinnerung? Nicht, um es neu und sensationell zeigen zu können, ganz im Gegenteil, um es unvoreingenommen sehen zu können, ohne immer schon zu wissen, was man sieht.
Die Arbeit der beiden Künstler, die – bemerkenswerter Weise – an keiner Stelle einem der beiden Autoren individuell zugeschrieben wird, richtet sich somit nicht auf ein Anknüpfen oder Fortschreiben, Weitererzählen oder Anders-erzählen, es geht vielmehr um ein Interesse an den Lücken und Brüchen zwischen Erinnerung, Erfahrung, Geschichte und Gegenwart. Alle nachhaltigen Kartographien sind unvollständig, denn sonst ergeht es uns wie dem Kartografen in der Erzählung Von der Strenge der Wissenschaft von Jorge Luis Borges aus dem Jahr 1960, in der die Karte der Welt mit der Welt in eins fällt: eine Karte, „die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm in jedem Punkt deckte“. Wie aber könnte sich die Erfahrung zweier Künstler mit der Mannigfaltigkeit des Erlebens des Städtischen durch seine BewohnerInnen und deren Erfahrungen, Erinnerungen und Geschichten jemals in Deckung bringen lassen? Miwon Kwon schreibt 2002 über den Ort, dass dieser „ein Prozess, eine Operation“ ist, „ein mapping diskursiver Verzweigungen. Er ist ein informationsorientierter Ort, eine Überlappung von Texten, Photographien und Videoaufnahmen, physischen Plätzen und Dingen (…). Er ist eine zeitweilige Angelegenheit; eine Bewegung, eine Bedeutungskette, der ein spezieller Fokus fehlt.“
Der Kunstkritiker und Journalist Jules Janin behauptet 1839 euphorisch: „Jetzt kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen: ‚Werdet Bild!‘ und die Türme gehorchen. So wie sie Daguerre gehorcht haben, der sie eines schönen Tages zur Gänze mit sich fortgetragen hat.“ Selbstverständlich, möchte man meinen, haben wir uns von einem derart naiven Bildverständnis des Fotografischen längst emanzipiert, das das Bild mit dem Gegenstand verwechselt, den dieses zeigt, dennoch warnt uns Ariela Azoulay noch im Jahr 2012 vor dem „Protokoll der Ikonisierung der Bilder“, wie sie es nennt: zu sehen, was zu sehen ist, die Bilder über die Dinge zu bezeichnen, die sie repräsentieren und die Dinge über die Bilder zu identifizieren, die sie zu repräsentieren scheinen – und beides als eine Art Wirklichkeitsbeschreibung (miss-) verstehen. Die Bezugnahme auf die Frühgeschichte der Fotografie mag manieriert erscheinen, sie soll aber daran erinnern, dass Fotografie als Kulturtechnik von Beginn an eine Technik des Urbanen war, der industriellen Revolution, der Moderne. Die Stadt und das fotografische Bild umkreisen sich von Anbeginn an, jede auch aktuelle visuelle Erkundung des Städtischen ist in diese Geschichte der Umkreisung von Fotografie und Stadt involviert, schreibt sie fort, möchte sie umschreiben, überschreiben oder gar auslöschen. „Triester“ ist also in einem weit umfangreicheren Sinn eine aktuelle Erkundung dessen, in welcher Beziehung Gesellschaft, Stadt und fotografische Bilder heute zueinanderstehen können, inwiefern sie sich ineinander wiederfinden lassen oder auch nicht, inwiefern sie sich fundamental fremd bleiben, sich gegenseitig unterwerfen wollen oder sich zumindest der gegenseitigen Vereinnahmung entziehen können. Es handelt sich also um eine Befragung dieser Beziehung, nicht um ihre Dokumentation.
Zentral bleibt an dieser Geschichte der gegenseitigen Umkreisungen, der Zurückweisungen, der Eindrücke, Erinnerungen und Auslassungen immer auch dasjenige, was auf den Fotografien nicht zu sehen ist, was weder Teil der Fotografie (-Geschichte), einer Erinnerung noch eines Wiedererkennens werden konnte. In einer Zeit des Über-Visuellen, in der jeder Augenblick in ein kollektives Archiv der Aufzeichnung überzugehen in der Lage ist, erscheint es unglaubwürdig, dass etwas den Aufzeichnungsmaschinen der Gegenwart, vom Smartphone bis zur Überwachungskamera, d. h. einer permanenten Aufmerksamkeit des Visuellen, zu entgehen in der Lage sein könnte. Doch kann es ein Bild davon geben, was nicht gewusst, was nicht erinnert und also auch nicht gesehen werden kann?
„Triester“ stellt somit auch die Frage danach, welche Bilder es möglicherweise nicht geben kann und was also in den Zwischenräumen der Bilder passiert, außerhalb der Bilder und von einem Bild zum anderen. Braucht es nicht gerade heute Bilder, die sich nicht allzu wichtig nehmen, die nicht auf ihre Bedeutung bedacht sind oder ihre Besonderheit, die nicht ständig von Wirklichkeit „sprechen“? Gibt es nicht zu viel an Besonderem, zu viel an Wirklichkeit, oder was sich dafürhält? Sind wir nicht alle auf der Suche nach dem besonderen Augenblick, der eine Leere füllt, die sich unerbittlich auftut im post-sozialen Zeitalter? Würden wir uns nicht gerne anhand unserer Bildern mit unserer Gegenwart versöhnen? Was aber, wenn es Bilder gibt, die sich diesem Wunsch entziehen, die keine Lücken füllen möchten, sondern neue Lücken auftun, weitere Leerstellen, Unschärferelationen, bedeutungsoffen? Bilder, die uns nicht von etwas überzeugen wollen, die der Wirklichkeit nicht habhaft werden wollen, um sie mit sich forttragen oder sich dieser vergewissern zu können, sondern die diese Wirklichkeit für uns eröffnen wollen, die uns erlauben, immer neue mögliche Bedeutungen dieser Wirklichkeit zu erahnen – eine Bedeutungskette, der ein spezieller Fokus fehlt.
Eine Krähe, Disteln in winterlichen Bäumen, eine aufgelassene Tankstelle, ACAB, „Magreth’s Cafe“, Cafe „Bombon“, die „Monte Cito“ Cafe – Lounge – Tanzbar, ein verronnenes „Liebe! Liebe!“-Graffiti, …
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